Gefühle als ethische Fingerzeige
Ob bei Großdemonstrationen zum Konflikt im Nahen Osten oder beim Gedenkgottesdienst nach einem Amoklauf, ob in Debatten zum assistierten Suizid oder zu den großen ökologischen Herausforderungen: Aktuell erleben wir immer öfter, dass sich starke Gefühle in der Öffentlichkeit Bahn brechen und Beachtung beanspruchen. Daher widmete sich der 42. Internationale Kongress für Moraltheologie und Sozialethik, der vom 7. - 10. September 2025 im Bildungshaus Schloss Puchberg / Wels stattfand und von rund 90 theologischen Ethiker:innen aus 10 Ländern Europas besucht wurde, dem Thema „Gefühle und Ethik".
An die 90 Fachleute aus zehn europäischen Ländern reflektierten dabei über die Rolle von Gefühlen in moraltheologischen und sozialethischen Diskursen. © KU Linz / Hermine Eder
Dieses ist von der theologischen Ethik bislang nur ansatzweise aufgegriffen worden, obwohl Gefühle in anderen Geistes- und Sozialwissenschaften schon seit Beginn des Jahrtausends Aufmerksamkeit finden, so dass man mittlerweile von einem „affective turn" spricht. Dass eine größere Sensibilität für die Gefühle fruchtbare Weiterentwicklungen der Moraltheologie wie der Sozialethik verspricht, wurde auf der Tagung deutlich, vor allem weil sich die diametrale Gegenüberstellung von Vernunft und Gefühl bei näherer Betrachtung keineswegs als plausibel erweist.
Besondere Aufmerksamkeit fand der literarische Einstieg in das Tagungsthema. Katharina Hoffmann, Schauspielerin am Landestheater Linz, und Marianne Heimbach-Steins, Sozialethikerin an der Universität Münster zeigten unter dem Titel „So fallen die Schatten hinter dich" (Helga Schubert), dass die Schwierigkeit, Gefühle ins Wort zu fassen, über die Literatur eine gewisse Lösung erfährt.
Entscheidungen werden selten rein rational getroffen
Gemäß der interdisziplinären Ausrichtung der Fächer Moraltheologie und Sozialethik kamen auf der Tagung externe wissenschaftliche Perspektiven zu Wort, nämlich Neurowissenschaften, Politikwissenschaft, Psychologie, Soziologie und Philosophie. Stets kamen die Referierenden in gute und für beide Seiten gewinnbringende interdisziplinäre Gespräche mit den Teilnehmenden. Mehr als deutlich wurde, dass eine angemessene wissenschaftliche Wahrnehmung der Gefühle ohne interdisziplinäre Zusammenarbeit nicht möglich ist. Auf dieser Grundlage wurde dann die Bedeutung von Gefühlen in unterschiedlichen Handlungsfeldern untersucht: In den Bereichen Bildung, Wirtschaft, Politik und Ethikkommissionen ebenso wie beim individuellen ethischen Entscheiden. Nie fallen Entscheidungen rein rational – doch oft muss man viel Mühe aufwenden, um das den Beteiligten bewusst zu machen.
Ein wichtiger Teil der Tagung sind traditionell die Workshops, die von Nachwuchswissenschafter:innen gestaltet werden. Hier wurden aktuelle Forschungsprojekte in einer großen Bandbreite vorgestellt. Die Themen reichten von Impulsen der aktuellen Emotionsforschung und Konzepten wie „Sentipensar", einer Erkenntnistheorie des globalen Südens über Reflexionen zu so unterschiedlichen Gefühlen wie Rache, Empathie, Schuld und religiösen Gefühlen, bis hin zu Fragen der ethischen Relevanz von „Fingerspitzengefühl".
Das kulturelle Rahmenprogramm des Kongresses führte die Teilnehmenden in den Linzer Dom, wo sie wahlweise die Glasfenster, das Altarraumkonzept, die Eremitenwohnung im Domturm oder den Jägerstätter-Gedenkort entdecken konnten. Viele waren überrascht von der Vielschichtigkeit und Lebendigkeit der Linzer Bischofskirche.
Bischof Scheuer warb für mehr Einfühlung
Den liturgischen Höhepunkt des Tages bildete anschließend eine Eucharistiefeier mit Bischof Manfred Scheuer, der in seiner Predigt für jene Einfühlung warb, die mehr sei als bloßes Mitgefühl. In Anlehnung an Edith Stein beschrieb er sie als eine aufmerksame, offene Haltung gegenüber dem anderen. Wer sich wirklich einfühlen und echte Nähe und Verständnis entwickeln wolle, müsse bereit sein, sich selbst zurückzunehmen, zuzuhören und nicht vorschnell zu urteilen. Scheuer widersprach dabei der Ansicht, Mitgefühl sei eine bloß schwache oder unvernünftige Regung. Es entstehe aus der Nähe zum Leid, sofern diese aus echter innerer Beteiligung statt nur aus Pflicht gesucht werde. Wer das Leid eines anderen wirklich wahrnehme, könne nicht gleichgültig bleiben, so der Bischof.
Der Kongress hat gezeigt, dass eine kritische Aufklärung der Gefühle durch die Ethik genauso nötig ist wie die kritische Aufklärung der Ethik durch die Gefühle. Auf dem Feld der theologischen Ethik gibt es also noch einiges zu tun. Einen Baustein wird der Tagungsband liefern, der 2026 erscheinen wird und in dem alle Beiträge des Kongresses nachzulesen sind.
(KU Linz)