Zeitdimensionen

Zeitdimensionen
Peter Prack
Lassen wir uns vom Heidewald zu einigen Überlegungen über die Zeit anregen!
EisZEIT
In Kapitel 2 über die Niederterrasse war von einer Zeitdimension die Rede, die unsere menschliche Lebensspanne weit übersteigt. Der Wuchsort dieses Waldes ist geschaffen von Prozessen, die weit über 10.000 Jahre zurückreichen. Das Klima als zweite, wesentliche Wachstumsbedingung hat sich etwa vor 5.000 Jahren in dem Bereich eingependelt, den wir gewohnt sind – oder vielmehr: gewohnt waren (vgl. Kapitel 9).
BaumZEIT
Die meisten Baumarten haben die Fähigkeit, mehrere Jahrhunderte alt zu werden. Die ältesten Baum-Exemplare in diesem Wald finden sich unter den Eichen, genauer den Stieleichen. Für diese Art wird ein mögliches Alter von 500 – 800 Jahren angegeben. So alt sind die Bäume hier sicher nicht. Der Wald wurde immer bewirtschaftet. Im Wirtschaftswald fällt man Bäume sehr lang vor ihrem natürlichen Höchstalter, bevor sich ihr Wachstum verlangsamt und Teile des Holzes absterben. Erst dank der Initiative der Diözese wurde dieser Wald außer Nutzung gestellt. Dass der Wald bewirtschaftet wurde, merkt man daran, dass sehr große und alte Bäume fehlen und dass es noch wenig Totholz gibt. Wie in Kapitel 6 näher ausgeführt wird, ist gerade das abgestorbene Holz Quelle neuen Lebens. Dennoch: so jung sind manche Bäume hier durchaus nicht.
Baumdurchmesser und Alter
Die sogenannte Umtriebszeit, die Zeit zwischen Keimung und Fällung eines Baumes im Wirtschaftswald, beträgt in typischen Fichtenwäldern mindestens 80, in Eichenwäldern mindestens 150 Jahre. Doch wie alt können Bäume werden? Der Stammdurchmesser – Forstleute beziehen sich meist auf den Durchmesser in Brusthöhe – ist kein guter Indikator für das Baumalter. Denn unter guten Bedingungen wächst der Baum schnell und bildet breite Jahresringe, unter ungünstigen Bedingungen dagegen bleiben diese schmal. Ein Baum mit recht mäßigem Durchmesser kann also durchaus ein hohes Alter haben. Es sind meist gar nicht die größten und dicksten Bäume, die besonders alt sind. Im Nationalpark Kalkalpen wurde das Alter einer Buche bestimmt, die nach aktuellem Kenntnisstand die älteste ihrer Art in Europa ist. Sie wurde 2020 auf ein Alter von 546 Jahren datiert (https://www.nationalparksaustria.at/de/news-detail-aktuelles/aelteste-buche-kontinentaleuropas-entdeckt.html) und wies einen Brusthöhendurchmesser von nur 73 Zentimetern auf. Schwierige Wachstumsbedingungen und enge Jahresringe machen das Holz besonders hart und den Baum besonders widerstandsfähig.
Geburtsjahr 1913
In diesem Heidewald herrschen Magerkeit und häufige Trockenheit (vgl. Kapitel 1). Die Bäume hier wachsen langsam und können auch bei mäßigem Durchmesser ein beachtliches Alter aufweisen. Betrachten wir eine der großen Eichen: Sie hat ein ungefähres Alter von 110 Jahren. Nun können wir zwar keine so eindrucksvolle Geschichte erzählen wie im Nationalpark („Als diese Buche keimte, war Amerika noch nicht entdeckt!“), aber: 1913 regierte Kaiser Franz Josef, der Erste Weltkrieg hatte noch nicht begonnen, die Industrialisierung war wenig fortgeschritten, die Menschen arbeiteten zu weit über 50 Prozent in der Landwirtschaft, die Weltbevölkerung war mit 1,7 Milliarden wenig mehr als ein Fünftel von heute, die menschengemachte Klimaerwärmung steckte noch in den Kinderschuhen. So kann der Baum als Ermahnung verstanden werden: „Ihr Menschen verändert die Welt rasend schnell! Und leider bedrohen die Veränderungen, die ihr bewirkt, die Natur, die Vielfalt der Arten und euch selber.“ Dieser Baum kann von sich aus noch ein paar hundert Jahre weiterleben. Wird das möglich sein? Was wird er in seiner Lebensspanne noch alles „sehen“? Wird er erleben, dass die Menschen eine neue Haltung zur Schöpfung finden, eine friedliche statt der heutigen, auf Profit und Ausbeutung gerichteten?
Von der Zukunft träumen
Träumen wir einmal davon, wie dieser Wald in weiteren 110 Jahren aussieht. Es ist möglich, dass er dann der menschlichen Gier zum Opfer gefallen, zum Beispiel gerodet und verbaut ist. Das ist aber nicht wahrscheinlich. Wir haben ein strenges Forstgesetz, das Rodungen nicht leicht macht. Das zeigt: Es gibt Ansätze zur Schöpfungsverantwortung.
Es ist möglich und aus heutiger Sicht gar nicht unwahrscheinlich, dass der Baum, vor dem wir stehen, wie die meisten anderen hier in 110 Jahren durch wiederholte Hitzesommer und Trockenheit längst abgestorben ist. So ist er ein lebendiger und dringender Appell, unsere Verantwortung noch weit entschiedener wahrzunehmen. Die Bewältigung der Klimakrise wird uns in nahezu jedem Aspekt unseres Lebens fordern – es geht um ein völlig neues Verhältnis zu allem, was lebt. Mehr denn je hängt die Zukunft davon ab, ob wir uns mäßigen können und wollen.
Es ist möglich, dass dieser Baum größer und stärker geworden ist, dass er viele Spechthöhlen aufweist und noch mehr Arten Wohnung und Nahrung bietet als heute. Weil dieses schöne Waldstück seit 2024 nicht mehr forstlich genutzt wird, ist es auch möglich, dass er dann in einem wesentlich artenreicheren Wald steht, der immer mehr einem Urwald gleicht, weil die Bäume ihr natürliches Alter erreichen dürfen und immer mehr Totholz (vgl. Kapitel 6) als Grundlage von vielfältigem Leben seinen Charakter bereichert und mitprägt.
All das und noch mehr ist möglich. Es liegt in unserer Verantwortung.
FruchtZEITen der Eiche
Wie andere Baumarten auch, fruchtet die Eiche nicht gleichmäßig. Auf Jahre mit sehr spärlichem Fruchtansatz folgen etwa alle sieben bis zehn Jahre solche mit massenhafter Eichelproduktion, die sogenannten Mastjahre.
Man kann dieses Phänomen von zwei Seiten her erklären: Einerseits sammelt der Baum über mehrere Jahre „Kraft“ (Stoffe, die er für die Fruchtbildung braucht), um dann reichlich zu fruchten. So wird der Abstand zwischen den Mastjahren durch mehrere Jahre mit günstiger Witterung verkürzt. Andererseits fressen in Jahren mit geringem Fruchtansatz Rötelmaus und Eichhörnchen sowie Rehe, Hirsche und Wildschweine die Eicheln nahezu restlos auf. Durch das knappe Nahrungsangebot haben die Kleinsäuger wenig Junge – ihre Anzahl bleibt gering. Folgt dann ein Mastjahr, trifft die riesige Eichelmenge auf eine relativ kleine Zahl von Samenfressern. Viele Samen können keimen, wurzeln und zu Jungbäumen heranwachsen. Fast könnten einem die Kleinsäuger leidtun: auf das „Schlaraffenland-Jahr“ folgt wieder Knappheit, und die Populationsgrößen, die im Mastjahr gewachsen sind, brechen zusammen. Bei jährlich gleichbleibender Fruchtmenge könnte sich die Zahl der Früchtefresser dagegen so einspielen, dass sie ziemlich genau dem Angebot entspricht – um die Vermehrung der Eiche wäre es dann schlecht bestellt.
Mastjahre nennt man dieses Phänomen deshalb, weil früher die Schweine der Bauern in den Wald getrieben wurden und sich in diesen Jahren reichlich an den Früchten der Eichen mästen konnten. Besonders ausgeprägte Mastjahre weist neben der Eiche auch die Buche auf – Bucheckern werden etwa alle drei bis sechs Jahre reichlich gebildet.